Ich bin 1991 im Alter von 14 Jahren hoch motiviert in die Junge Union eingetreten. Im Frühjahr 1992 sind wir aus Dresden nach Karlsruhe gereist, um den Straßenwahlkampf der CDU Baden-Württemberg für die Landtagswahl am 5. April 1992 zu unterstützen. Ein großes Abenteuer! Seitdem verfolge ich die Landespolitik im Südwesten mit Interesse.
Die damalige Wahl war, wie heute, durch die Ausländerpolitik dominiert. Der ungebremste Zustrom vom Balkan und aus anderen Regionen, und die sich daraus ergebenden Probleme waren das bestimmende Thema; nicht nur am Wahlstand, auch bei den Gesprächen mit den Freunden aus Karlsruhe. Im Jahre 1992 kamen 438.000 Asylbewerber, und wir waren uns alle einig, dass dieser Ansturm nicht zu verkraften sei. Die CDU Baden-Württemberg bekam den Unmut zu spüren, sie verlor fast 10 Prozent und damit die absolute Mehrheit im Landtag, während die „Republikaner“ mit 9,9 Prozent ins Parlament einzogen. Das Ergebnis dieser Verwerfungen war der Asylkompromiss von 1993, der festschrieb, dass sich niemand mehr auf das Asylrecht berufen darf, der aus einem EU-Staat oder einem anderen sicheren Land nach Deutschland einreist.
Im Jahre 2015 kamen 1,3 Millionen „Flüchtlinge“, und es war die CDU-geführte Bundesregierung, die diesen Ansturm zumindest mit verursachte, als sie das europäische Dublin-III-Verfahren aushebelte und die Regelungen des Asylkompromisses von 1993 ignorierte. Die Probleme, die diese unbegrenzte Zuwanderung, zumeist von jungen, männlichen Muslimen, mit sich bringt, sind ungleich größer als die von 1992. Wiederum ist die Einwanderungspolitik das bestimmende politische Thema, und wiederum geht es zu Lasten der CDU, die auf einem historischen Tiefststand von 27 Prozent gelandet ist, während die AfD aus dem Stand 15 Prozent schaffte.
Die CDU Baden-Württemberg ist nicht irgendein Landesverband. Es ist der größte Verband mit den meisten Parteitagsdelegierten der CDU Deutschlands. Sie hat das Land geprägt, im Guten. Das ist nun vorbei. Jetzt geht es darum, die Gründe dieses Desasters zu analysieren und den Kurs zu korrigieren.
Welche Deutung sich durchsetzt wird über den zukünftigen politischen Kurs bestimmen. Deshalb geht es bei der Analyse oft nicht um Richtigkeit, sondern um Opportunität. Einen Vorgeschmack lieferte Ursula von der Leyen bei Anne Will: Sie erklärte dem erstaunten Publikum, die Wahlergebnisse seien keine Ablehnung der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel. Vielmehr hätten die Wähler in Baden-Württemberg mit Winfried Kretschmann von den Grünen und Malu Dreyer von der SPD Politiker gewählt, die explizit die Politik der offenen Grenzen verteidigen. Hätten sich also, so die Konsequenz, Guido Wolf und Julia Klöckner uneingeschränkt hinter die Berliner Politik gestellt, so hätten sie statt Kretschmann und Dreyer gewonnen.
Diese Deutung steht im eklatanten Widerspruch zu den demoskopischen Befunden. Zwar hat nach den Erhebungen der Tagesschau die CDU in Baden-Württemberg 109.000 Wähler an die Grünen verloren, die offen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin unterstützen. Aber 188.000 Wähler sind zur AfD, weitere 86.000 zur FDP abgewandert, die offen beziehungsweise verklausuliert einen Politikwechsel fordern. Damit steht eine Abwanderung von 274.000 Wählern an zuwanderungsskeptische Parteien gegen eine Abwanderung von 109.000 an die zuwanderungsfreundlichen Grünen.
Dass der Wunsch Vater der These ist, ein klareres Bekenntnis für die Merkel´sche Flüchtlingspolitik hätte die CDU-Einbußen verhindert, wird auch an den Wählerwanderungen in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt deutlich. In beiden Ländern gab es nämlich Wanderungen von den Grünen zur CDU und nicht umgekehrt, und zwar 21.000 Wähler in Rheinland-Pfalz und 8.000 in Sachsen-Anhalt. Relevant waren wiederum die Abwanderungen von der CDU zur AfD, sie betrugen 46.000 respektive 38.000 Stimmen, jeweils zuzüglich weiterer Stimmenbewegungen zur FDP. Die CDU hat also in Größenordnungen an die AfD, nicht an die Grünen verloren, womit die Behauptung, die Zuwanderungspolitik der Bundesregierung wäre für die Stimmenverluste nicht verantwortlich, unhaltbar ist.
Sie wird dennoch weiter aufgestellt werden. Denn damit kann die Verantwortung für das Wahldesaster von Berlin in die Landesverbände verschoben werden. Mehr; Politiker, die bislang die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung unterstützt haben, müssen sich nicht nur keiner Kritik stellen, sondern können ihrerseits diejenigen kritisieren, die zuwanderungskritische Positionen eingenommen haben. Hinter diesem Schauspiel verbirgt sich ein Politikverständnis, das alle politischen Entscheidungen zu reinen Kommunikationsaufgaben reduziert. Dieses Konzept scheitert aber, wenn die Politik mit existentiellen Fragen konfrontiert ist. Dann passiert etwas, was heutige Politiker und ihre Berater völlig ausgeblendet haben: es geht um die Wirklichkeit, nicht nur um Kommunikation.
Es mag innerparteilich funktionieren, die Wahlergebnisse von der Zuwanderungspolitik zu trennen, aber das ändert weder die Wahlergebnisse, noch wird es bei den nächsten Wahlen zu anderen Ergebnissen führen. Die CDU-Wählerschaft will keine offenen Grenzen. Also läuft sie in Scharen zur AfD über, egal welche Ränkespiele die Parteifunktionäre veranstalten. Zudem mobilisiert die zunehmend von der Realität losgelöste Berliner Politik unzufriedene Nichtwähler, die dann AfD oder wirklich extremistische Parteien wählen – in Sachsen-Anhalt entfielen auf die „Sonstigen“ fast 10 Prozent. Dieser Trend wird sich weiter verstärken, wenn zum einen der etablierte Politikbetrieb unbeirrt an seiner Politik festhält und zum anderen die Probleme mit der Zuwanderung immer gravierender werden; die Ereignisse am Silvesterabend in Köln waren hier ein Vorgeschmack auf das, was Deutschland im Sommer erwartet.
Noch hat es die CDU in der Hand, mit einem Politikwechsel Vertrauen zurückzugewinnen und den Höhenflug der AfD zu beenden. Das Problem der AfD ist nicht ihre Programmatik, die entspricht weitgehend derjenigen der Jungen Union und CDU, in die ich 1991 und 1996 eingetreten bin. Ihr Problem ist, dass sie personell unkonsolidiert und oft einfach unsympathisch ist. Demgegenüber gilt die CDU als verlässliche, solide und pragmatische Kraft aus der Mitte der Gesellschaft. Diese Markenimages überdauern auch Phasen verfehlter Politik, aber nicht ewig. Wenn die CDU den Kairos der Politikwende verpasst, während die AfD ihr Personal- und Imageproblem in den Griff bekommt, dann steht die Zukunft der CDU als Volkspartei auf dem Spiel. Die SPD ist das abschreckende Beispiel; sie ist mittlerweile eine Kaderpartei, geführt von Unsympathen wie Ralf Stegner, Heiko Maas oder Sigmar Gabriel, und bewegt sich konsequent auf Wahlergebnisse unter 20 Prozent zu. Will auch die CDU so enden?
1992 haben wir in Karlsruhe für den Asylkompromiss gekämpft. Am Abend saßen wir mit der Jungen Union Karlsruhe zusammen, feierten und sangen um Mitternacht die Nationalhymne. Das ist meine CDU. Niemand, den ich kenne, ist in die Union eingetreten, weil er eine unbegrenzte Zuwanderung befürwortet, niemand hat je dafür CDU gewählt. Angela Merkel opfert die CDU für ihre Einwanderungspolitik und stützt sich stattdessen auf SPD und Grüne. An diesem Befund kann es nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt keinen Zweifel mehr geben, was immer die Claqueure der Macht auch behaupten mögen; contra factum non est disputandum. Es geht nicht um Kommunikation, es geht um konkrete Politik. Wir brauchen eine Wende in der Flüchtlingspolitik, für Deutschland und für die CDU.