Wäre am kommenden Sonntag Bundestagswahl, käme nach der aktuellen Wahlumfrage des Instituts INSA die Union, also CSU und CDU gemeinsam, auf 31,5 Prozent der Wählerstimmen. Unterstellt man, dass die CSU in Bayern bei rund 45 Prozent liegt, so ergibt sich für die CDU außerhalb Bayerns ein Stimmenanteil von etwa 28 Prozent. Die SPD liegt bundesweit unter 20 Prozent, die AfD erreicht 13,5 Prozent. Nimmt man für die AfD einen Anteil in den alten Bundesländern von um 10 Prozent an, so errechnet sich für die neuen Bundesländer ein Stimmenanteil von über 20 Prozent. Das sind Zahlen, die man sich noch vor einem Jahr nicht vorstellen konnte.
Sie entsprechen in etwa den Landtagswahlergebnissen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, mit Stimmenanteilen der CDU von 27%, 31,8% und 29,8% und der AfD von 15,1%, 12,6% und 24,3% – die Ergebnisse der AfD liegen üblicherweise oberhalb der Umfragen.
Noch gravierender sind die Veränderungen in unserem Nachbarland Österreich. Dort erreichte der Kandidat der CDU-Schwesterpartei ÖVP bei der Präsidentenwahl 11 Prozent, ebenso derjenige der sozialdemokratischen SPÖ, so dass die Große Koalition noch auf 22 Prozent Zustimmung kam. Die Kandidaten, die den Grünen und den NEOs, einer neuen liberalen Kraft nahestehen, erreichten je etwa 20 Prozent. Es triumphierte der Kandidat der rechtsliberalen FPÖ mit 35 Prozent. Damit kommt keine Regierungspartei auch nur in die Stichwahl.
In Deutschland, Österreich wie der gesamten westlichen Welt wurde die Politik seit über 100 Jahren durch den Dualismus zwischen je einer bürgerlichen und einer sozialistischen Partei geprägt: CDU vs. SPD, ÖVP vs. SPÖ, Tories vs. Labour, Gaullisten vs. Sozialisten, Republikaner vs. Demokraten. Noch bis zur Jahrtausendwende konnten diese Parteien regelmäßig mehr als drei Viertel des Elektorats für sich gewinnen. Mittlerweile wird schon die einfache Mehrheit eng. Stattdessen schicken sich neue Kräfte an, das politische System zu dominieren.
Wie konnte das passieren? Es wäre zu einfach, die massiven Verschiebungen der Parteienlandschaft allein mit der aktuellen Migrationspolitik zu erklären. Sie ist lediglich Katalysator langfristiger und tiefgreifender Prozesse, die nun wirksam werden.
Über die Jahre sind sich die etablierten Parteien immer ähnlicher geworden. An die Stelle des Wettstreits der Ideen ist „Alternativlosigkeit“ getreten. Dieser inhaltlichen Ähnlichkeit entspricht auch die Austauschbarkeit des politischen Personals. Noch Ende der 1990er konnte ich, wenn ich im Sächsischen Landtag die Kantine besuchte, an Kleidung, Gestus und Habitus erkennen, welcher Fraktion die verschiedenen Tischgesellschaften angehörten. Wenn ich heute den Deutschen Bundestag besuche, wundere ich mich über die Uniformität der Personen. Auch soziologisch sind sich von Grünen über Sozialdemokraten bis zur Union alle ähnlich geworden: Mittelschichtskinder, meist schon als Gymnasiasten in den Jugendorganisationen der Parteien sozialisiert, anschließend Studium der Politik mit Nebenjob bei einem Abgeordneten, mit umfangreichem Besuch politischer Veranstaltungen in der Freizeit. Freundeskreis, Partner, sie alle rekrutieren sich aus dem selben Milieu. Und weil´s so schön ist, sieht es bei den politischen Beratern der Ministerien und den Journalisten genauso aus. In einer immer heterogeneren Gesellschaft wird die politisch-mediale Elite immer homogener.
Und immer mittelmäßiger. Zum einen wegen der Homogenität. Nicht umsonst achten alle wirklichen Eliteuniversitäten auf die Diversität ihrer Studenten – denn der Austausch regt das Denken an. Wo er fehlt, entsteht group think, der um der Gleichförmigkeit des Denkens willen auf rationale Entscheidungsfindung verzichtet. Zum anderen aber auch wegen der Fehlanreize des politischen Systems. Die Qualifikationen, die zum langsamen, aber beständigen Aufstieg in einer der großen, etablierten Parteien dienen, sind eben nicht intellektuelle Brillanz, Fachkenntnisse und Charisma, sondern Anpassungsbereitschaft, Fleiß und Unauffälligkeit. Die Ergebnisse einer solchen Personalentwicklung sind dann Andrea Nahles, Martin Schulz oder Armin Laschet.
Eine homogene, dabei mittelmäßige politische Funktionselite vermag aber keine belastbaren Loyalitäten in der zunehmend kritischen Bevölkerung auszulösen. Achtung, Respekt und Vertrauen der Bürger in die Politiker schwinden, sie werden als abgehoben, unfähig und weltfremd wahrgenommen. Die demoskopischen Erhebungen zum Ansehen der Politiker (und Journalisten) bestätigen das, „Politikverdrossenheit“ ist die Folge. Dies wird durch die Umwälzungen der Medienwirtschaft verstärkt: das Internet bricht das Informationsmonopol der etablierten Verlage und Rundfunkanstalten, statt einer Berichterstattung der Journalisten an die Bürger erleben wir eine Kommunikation zwischen Politik und Bürgern und der Bürger untereinander. Damit erodiert die steuernde und mäßigende Kraft der politiknahen Medien, was die etablierten Parteien zusätzlich schwächt.
Auf die sich entwickelnde Distanz weiter Teile der Bevölkerung zum politisch-medialen Milieu reagiert dieses mit Verachtung. Besonders Menschen ohne formal hohe Bildungsabschlüsse werden nicht ernst genommen, ihnen wird die Befähigung zum gesunden Urteil abgesprochen und ihre Sorgen und Nöte werden verlacht. Der Arbeiter ist nicht mehr der respektierte Malocher, der durch seiner Hände Kraft den Wohlstand des Landes schafft, sondern der Proll, der zu viel Fleisch isst, zu viel Kohlendioxid erzeugt und dem wegen seines begrenzten Verstandes das höhere Bewusstsein der steuerfinanzierten Sozialwissenschaftler in den Parlamentsbüros, Zeitungsredaktionen und Universitäten abgeht. Die Verachtung der pseudo-intellektuellen Rotzlöffel gegenüber gestandenen Arbeitern, Angestellten und Kleinunternehmern ist regelmäßig ekelerregend – und ich könnte konkrete Beispiele nennen.
In diese Gemengelage hinein platzt nun die Flüchtlingskrise. Die politische Klasse denkt nicht an die Bevölkerung, sondern an das eigene moralische Wohlbefinden. Aus immateriellen Gründen – „moralischer Imperativ“ – öffnet sie die Grenzen und bewirkt eine Einwanderung von 1,3 Millionen Menschen allein im Jahr 2015, überwiegend schlecht ausgebildete junge Männer aus dem Nahen und Mittleren Osten, Nord- und Ostafrika. Die materiellen Kosten dafür fallen der Unter- und Mittelschicht zur Last, sei es über die von ihnen finanzierten Sozialsysteme oder durch die Konkurrenz um preiswerten Wohnraum und einfache Jobs. Ihr Protest wird von den etablierten Parteien aber moralisch delegitimiert und folglich ignoriert. Das wiederum führt dann zu Wahlentscheidungen wie in Sachsen-Anhalt und Österreich. Die, soweit geht der bislang letzte Akt, mit Wählerbeschimpfungen beantwortet werden. Was aber wenig nützt, denn am Ende entscheiden die Wählerinnen und Wähler über die Zusammensetzung der Parlamente und nicht die Politiker über die Zusammensetzung des Volkes.
Noch ist Zeit, die Entfremdung zu heilen. Dazu reicht aber keine bloße Kehrtwende in der Migrationspolitik, wie wir am Beispiel Österreich gesehen haben. Vielmehr müssen die grundlegenden Fehlentwicklungen angegangen werden, die in der Flüchtlingskrise nur offenbar wurden. Die Politik muss sich wieder am Volk ausrichten, nicht am politischen und medialen Establishment. Nicht mehr die Zustimmung der anderen Parteien und etablierten Medien, sondern der eigenen Wählerbasis muss das Ziel sein. Der Abgeordnete ist der Repräsentant des Volkes, nicht das Sprachrohr der Regierung. Er steht im Spannungsfeld zu Medien, Ministerialbürokratie und Lobbyverbänden und darf sich deshalb nicht mit ihnen gemein machen.
Authentizität und Integrität setzen auch entsprechende Persönlichkeiten voraus. Die reifen in den Stürmen des Lebens, nicht im geschützten Reservoir des politischen Betriebes. Natürlich gibt es die political animals, für die Politik das Leben ist. Aber wenn es eher Regel denn Ausnahme ist, dass die Mitarbeiter der Abgeordneten selbst Abgeordnete werden, wenn in den etablierten Parteien vom Ortsverbandsvorsitzenden aufwärts diejenigen bestimmen, die ihren Lebensunterhalt mit Politik verdienen, wenn gestandene Männer und Frauen keine Chancen auf einen Seiteneinstieg mehr haben, weil sie die Karrierepläne der Nachwuchskader stören, dann braucht man sich über den Niedergang der Volksparteien nicht zu wundern.
Die etablierten Parteien müssen sich erneuern, sonst erneuern die Wähler die Parteienlandschaft. Wenn die CDU der ÖVP oder der einst großen Democrazia Christiana folgen will, dann muss sie nur weiterhin inhaltlich den Grünen nachjagen, jede innerparteiliche Diskussion vermeiden und personell auf austauschbare Streber setzen, deren Idee vom Leben in den Ränkespielen der Jungen Union geprägt wurde. Abschreckendes Beispiel für diesen Ansatz ist die SPD, auf deren Parteitagen kein Arbeiter mehr zu sehen ist, dafür aber lauter Parlamentsmitarbeiter, und deren Nachwuchshoffnungen Ralf Stegner, Heiko Maas und Manuela Schwesig heißen.
Dass es auch anders geht zeigt die CSU. Gäbe es sie bundesweit, hätte die AfD keine Chance. Die AfD lebt nicht aus der eigenen Kraft, sie lebt von der Schwäche der Anderen. Noch haben die Anderen, voran die CDU, die Chance, sich zu besinnen. Aber irgendwann wird die AfD ihre inhaltlichen und personellen Klärungsprozesse abgeschlossen haben und eigene Stärke entwickeln. Und dann ist der Verlust von einem Drittel der Direktmandate wie in Sachsen-Anhalt kein Betriebsunfall mehr, sondern Dauerzustand. Wer will das?