IMG_2975Es war einer der schöneren Auswärtstermine. Am 22. Juli traf ich mich mit zwei Mandantinnen zur Erörterung einer Steuersache in der Münchner Innenstadt. Die Sonne schien vom blauen Himmel, und die Aktenlage war nicht weniger erfreulich. Mein Rückflug war für 21:30 Uhr geplant, und zuvor hatte ich mich noch spontan mit dem Schriftsteller Michael Klonovsky im Englischen Garten verabredet.

Als ich 18:00 Uhr den Biergarten am Chinesischen Turm erreichte, hatte das Wetter gedreht. Wolken waren aufgezogen, Regen drohte. Klonovsky und ich hatten schon ein launiges Foto für die Social Media-Gemeinde geschossen, als die Nachricht von dem Attentat die Runde machte. Drei Bewaffnete hätten wahllos auf Passanten geschossen und sich dann unerkannt in die Innenstadt aufgemacht. Wir sollten alle öffentlichen Plätze meiden, es bestünde Lebensgefahr. CNN meldete, dass die Angreifer „Allahu Akbar“ gerufen hatten. Eine IS-Hompepage reklamierte die Tat für sich. Polizeihubschrauber kreisten über der Stadt. Mein Telefon stand nicht still, meine Partnerin, die Kinder und meine Eltern riefen an, wollten wissen, ob es mir gut gehe. Das launige Foto auf Facebook erhielt einen anderen Text; wir teilten nun mit, dass wir sicher sind.

Zwischenzeitlich machte die Nachricht die Runde, die drei Terroristen seien am Stachus angekommen, in der Nähe des Marienplatzes. Dort musste ich hin, meine Aktentasche abholen. Nach Paris, Brüssel, Orlando, Nizza und Würzburg hatte die Gefahr nun also auch München erreicht. Wir verließen den Biergarten auf der Suche nach einem Taxi. Überall liefen Menschen in kleinen Gruppen schweigend die Straßen entlang. Taxis fuhren keine. Es hatte zu Nieseln begonnen. Keine schöne Stimmung. Ein Freund erreichte mich telefonisch und meinte, dieser Angriff müsse nun endlich einmal den Wendepunkt bringen, so könne es nicht weitergehen. Diesen Gedanken griff ich auf und postete ihn bei Facebook und Twitter: „Ich bin in München. Das muss der Wendepunkt sein: Die Willkommenskultur ist tödlich.“

Am Odeonsplatz konnte ich nicht weiterlaufen, die Ludwigstraße war gesperrt. An allen Hausecken standen Sicherheitspersonal und Polizisten mit Maschinenpistolen. Nach einem langen Umweg erreichte ich schließlich die Wohnung meiner Mandantinnen, wo ich sicher war, abwarten konnte und die Lieben daheim beruhigen. Meinen Flug buchte ich um.

Nachts um zwei gab die Polizei schließlich bekannt, dass es nicht drei Täter waren, sondern einer gewesen sei, der sich unmittelbar nach der Tat selbst gerichtet habe. Verdächtig ist ein 18jähriger Deutsch-Iraner, der in München aufgewachsen ist. Ob er aus islamistischen Motiven oder persönlichem Frust 10 Menschen ermordet hat ist offen.

Seit meiner Jugend reise ich viel und gern. Ich mag Städte, gerade auch solche, die nicht so sicher und wohlorganisiert sind wie es München typischerweise ist. Aber die Stimmung am Abend des 22. Julis war besonders. Die sonst so belebten Straßen leer, die Menschen leise und furchtsam; man konnte den Druck, der auf ihnen und damit der Stadt lastete, fast schon körperlich spüren. Es war nicht schön. Dass so ein Terror sich in Deutschland ereignen könnte hätte ich vor zwei Jahren noch für ausgeschlossen gehalten.

Unser Land hat sich verändert. Angst hat sich breit gemacht. Angst im Zug, Angst im Schwimmbad, Angst, nachts allein durch die Straßen zu gehen. Unsere Art zu leben basiert auf dem Vertrauen in die Ungefährlichkeit des Anderen. Wir konnten uns immer darauf verlassen, dass diejenigen, die uns im Zug, im Freibad, in der Kneipe und auf der Straße begegnen, von sich aus dieselben Regeln respektieren und dieselben Werte teilen wie wir selbst. Diese Regeln waren zivil, die Werte liberal.

Diese Sicherheit ist dahin. Und sie ist auch dann dahin, wenn sich herausstellen sollte, dass der Anschlag von München anders als die 100 letzten ähnlicher Art keinen islamistischen, sondern einen persönlichen Hintergrund haben sollte. Die 100 islamistischen Anschläge haben uns die Ruhe und Gelassenheit genommen, diesen einhundert-ersten als das zu ertragen, was er möglicherweise und gegen allen ersten Anschein und gegen jede Wahrscheinlichkeit sein könnte: ein Einzelfall.

Die offene Gesellschaft basiert auf Vertrauen. Es geht schnell, dieses Vertrauen zu zerstören. Es wieder aufzubauen ist ein schwieriger und langwieriger Prozess. Jeder neue Anschlag und jeder Übergriff lassen das Vertrauen weiter sinken und führen damit zu einer schleichenden Veränderung unseres Zusammenlebens hin zu der bedrückten Stimmung, die am Abend des 22. Juli in München herrschte: furchtsam, vereinzelt, hastend. Hoffen wir also, dass München tatsächlich ein Wendepunkt ist und die Chance zur Umkehr nicht deshalb vergeben wird, weil es ja „nur“ ein echter Einzelfall gewesen sein könnte. Gerade weil dieses Mal der islamistische Hintergrund fraglich ist, besteht für diejenigen, die seit 2015 die Gefahr konsequent ignoriert haben die Gelegenheit, den Skeptikern die Hand zu reichen und zu versuchen, unserem Land die Sicherheit und Gelassenheit zurückzugeben, die es verloren hat.