„Nachdem wir das Auto unter der Oper geparkt hatten, gingen wir zu Fuß weiter, dem Fluss folgend in der Hoffnung, in das Stadtzentrum zu gelangen. Ein paar Meter weiter gewannen wir einen Blick auf wunderschöne historische Gebäude, ich glaube im Barockstil. … Wenn die Hofkirche und die Oper um das Auge des Betrachters wetteifern, dann stiehlt der Zwinger ihm das Herz.“ Diese Beschreibung Dresden stammt aus dem Blog meines Freundes Srikrishna Gutta[i], einem indisch-stämmigen Manager aus London. Wann immer ich mich vorstelle und dabei auf Dresden zu sprechen komme, wissen die Umstehenden Bescheid und können etwas damit assoziieren. Und seien es die Russen, die selbstverständlich wissen, wo die Karriere von Wladimir Putin ihren Anfang nahm. Während eine Kommilitonin, die aus dem Sauerland stammt, ihre Heimat mit Frankfurt angibt, kann ich mit Dresden bei der Wahrheit bleiben und muss mich dennoch vor Frankfurt nicht verstecken. Diese persönliche Erfahrung korreliert mit der Häufigkeit, in der Dresden in den überregionalen Zeitungen Gegenstand der Berichterstattung ist. Auch wenn wir wirtschaftlich noch in der Aufholphase sind, so steht Dresden in Deutschland in einer Liga mit München, Hamburg, Köln und Berlin und nicht mit Stuttgart, Hannover, Leipzig, Düssel- oder anderen Dörfern.

Dresden ist dementsprechend bei den in Mode gekommenen Städtevergleichen in den Toppositionen. Die Stadt bietet eine überragende Lebensqualität. Landschaft, Architektur, Kultur und Bürgersinn bilden eine Harmonie, die auch einen wirtschaftlichen Wert hat. Ich konnte mich mit meiner Londoner Volkswirtschaftsprofessorin unterhalten, das Thema ihres Vortrages lautete „Was macht Länder reich?“ Wir sprachen über Dresden: hohe Lebensqualität, guter Altersdurchschnitt, überdurchschnittlich hoher Anteil gut Ausgebildeter, exzellente Infrastruktur, niedrige Preise und moderate Löhne. Ihr Urteil war klar: Langanhaltendes Wirtschaftswachstum sei nahezu unvermeidlich. Es sind diese Einsichten von außen, die wir vielleicht manchmal brauchen, um nicht anzufangen, an unsere Selbstkritik zu glauben.

Wir sagen ja oft über uns, zu langsam, zu veränderungsresistent, zu starr zu sein. Wenn dem so wäre, weshalb steht dann in Dresden eine Waldschlösschenbrücke über der Elbe und in Stuttgart ein Bahnhofsumbau in den Sternen? Als die Debatte um Stuttgart 21 eskalierte, wurde ein Schweizer Politologe interviewt, der darauf hinwies, wie in der Schweiz solche Projekte entschieden werden: durch Volksabstimmung. Und fast schon sehnsüchtig wünschte sich der fragende Journalist das auch für Deutschland. Neue Wege bei der Entscheidung über Großprojekte wurden allenthalben gefordert, eine frühere und direktere Bürgerbeteiligung. Dresdner können da schmunzeln. Wir haben unsere Brücke auf Schweizer Art beschlossen. Wir haben diese frühe und direkte Bürgerbeteiligung längst praktiziert. Woran es vielleicht hapert ist der Stolz, das nun den Stuttgartern einmal zu sagen. Die Walschlösschenbrücke ist nicht nur ein Sieg von Bürgersinn über Bürokratenarroganz bei der Unesco, sie ist auch ein Muster für Planungs- und Entscheidungsprozesse bei Großprojekten für ganz Deutschland. Und nebenbei ist sie eine dringend nötige Verkehrsachse für eine aufstrebende Stadt.

Dass Langsamkeit und Beharrungsvermögen, wie sie in Dresden praktiziert werden, etwas Gutes ist, hat uns Uwe Tellkamp in seinem „Turm“ bewiesen. Hätte es ohne das Beharren auf Bürgerlichkeit, hätte es ohne die im besten Wortsinne feinen Menschen, fein durch Anspruch, Anstand und Aufrichtigkeit, eine friedliche Revolution 1989 gegeben? Die Grenze von Beharrungsvermögen zu Langschemeligkeit ist sicher fließend, und manche Dresdner Diskussionen sind für Menschen unter 60 und auch für diejenigen darüber, sofern sie sich das Tempo der Jugend bewahrt haben, schlicht unerträglich. Und dennoch: was passiert, wenn man erst baut und dann denkt, sieht man anderswo, etwa in Leipzig.

Sinn für Gewachsenes, Sinn für Harmonie, Achtung vor der Tradition, und doch der Zukunft zugewandt. Ein Beispiel dafür ist der Neumarkt mit der Frauenkirche. Was haben wir uns für Spott anhören müssen! „Disneyland“ war noch das Mildeste. Als die Kirche fertig war, schrieb „Der Spiegel“, man frage sich, wie es Dresden so lange ohne sie ausgehalten habe. Heute ist sie eines der drei weltweit bekanntesten Touristenziele in Deutschland. Und in Braunschweig, Berlin, Frankfurt und anderswo begannen ebenfalls Initiativen zum Wiederaufbau identitätsstiftender, aber durch Krieg und Fortschrittswahn verlorener Bauten. Ob es Großprojekte oder historische Gebäude sind – wir machen mehr richtig, als wir oft selbst glauben.

Wenn wir versuchen, das Geheimnis zu ergründen, was diesem Erfolg zugrunde liegt, dann ist es wohl Kultur. Frage ich meine ausländischen Freunde, was sie von Dresden wissen, dann gibt es viele Antworten, von Putin über die Bombardierung 1945 bis zu Chipfabriken. Aber alle wissen um die reiche Geschichte und darum, dass diese Tradition in Dresden nicht tot ist, sondern dass das Feuer brennt. Lassen wir noch einmal Srikrishna Gutta zu Wort kommen: „So bemerkenswert bereits die Reise war, ich werde sicher wiederkommen um mehr von dieser unglaublichen Stadt zu entdecken“. Er war im April wieder da, und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Denn er war noch nicht einmal in einer Opernaufführung!

Dresden beherbergt die berühmteste und bestbesuchte Oper Deutschlands. Und es tut gut, bei einem Besuch im New Yorker Lincoln-Center die Ankündigung zu lesen, dass „Dresden Staatskapelle“ bald zu einem Gastspiel kommt. Mit der Philharmonie haben wir ein zweites, renommiertes Orchester. Diese Stärken gilt es zu pflegen und zu entwickeln. Ich amüsiere mich manchmal ein wenig, wenn besonders aktive Kulturpolitiker postulieren, die „zeitgenössische“ Kunst müsse genauso entwickelt werden wie die klassische. Ich war neulich in der Royal Opera am Covent Garden in London, „Il Barbiere de Seviglia“. Es war fantastisch. Das Bühnenbild war aufgeräumt, aber nicht abstrakt. Die Kostüme historisch. Die Aufführung war das pure Vergnügen, und am Pult stand der 30-jährige Rory Macdonald, der nicht nur wie Robbie Williams aussah, sondern auch eine fast schon pop-mäßige Freude versprüht, die auf Orchester, Solisten und Publikum übergriff. Unaufgeregt, unprätentiös und unterhaltend – hier war Oper nicht eine intellektuelle Spielwiese abgedrehter Regisseure, sondern selbstverständlich. New Yorks MET pflegt ebenso das klassische Repertoire, während in Dresden „Rusalka“, eine Oper, in der es um Elfen, ein Traumschloss und viel Liebe geht, als Sexshop mit Gummipuppen inszeniert wird. Mich beschleicht bei derlei Entgleisungen oft das Gefühl, je provinzieller der Kulturpolitiker, umso mehr fordert er die „zeitgenössische“ Kunst. Er weiß noch nicht, dass die Trennung von U- und E-Musik, von Unterhaltung und Anspruch ihrerseits von gestern ist, und es in der Postmoderne mit ihrer Zeitgleichheit des Unzeitgleichen nicht mehr auf den elitistischen Anspruch, sondern auf das Ergebnis ankommt. Das weiß hingegen meine sechsjährige Tochter, die von der wunderschönen, prinzessinenhaften „Schwanensee“-Inszenierung begeistert ist, während ich ihr das, was uns als „Giselle“ geboten wird, lieber erspare. Aber auch hier dürfen wir auf Christian Thielemann hoffen, den neuen Generalmusikdirektor, der weltläufig genug ist, um das provinzielle Streben nach der Modernität von gestern abzubügeln.

Dresden bietet viel und kann deshalb optimistisch nach vorn schauen. Heimat und Globalisierung müssen sich ergänzen, wenn es gelingen will. Die Welt ist enger zusammengerückt und immer mehr kommen wir in Kontakt mit Menschen aus anderen Ländern, mit anderen Prägungen und Präferenzen. Diese Herausforderungen können bereichernd sein. Aber um sie zu bestehen, müssen wir wissen, wer wir sind und wo wir herkommen. Aus Dresden. Wer die Erfahrung einer internationalen Gemeinschaft schon einmal gemacht hat, der weiß, wie angesehen wir Deutschen sind. Aber eben nur, solange wir uns nicht verstellen oder abgrenzen. Unsere Prägung, unsere Kultur, unsere Stärken bereichern. Wir bringen etwas ein, was geschätzt und gewünscht ist. Während der Nationalismus des 19. Jahrhunderts das Eigene noch als Abgrenzungsinstrument ansah, versteht der Patriotismus des 21. Jahrhunderts den kulturellen und intellektuellen Schatz der einzelnen Nationen und Regionen als Bereicherung für alle. Und es ist eben ein Schatz, es ist nichts, was man für eine gesichts- und geschmacklose BigMac-Kultur aufgeben darf! Die Welt schätzt uns und steht uns offen, weil wir etwas zu bieten haben.

Deutschland hatte in den letzten 60 Jahren viel nachzudenken. Die Katastrophe des Dritten Reiches und die Einsicht in das eigene Versagen haben nicht nur Literatur und Publizistik beschäftigt, sondern sicher in jeder Familie zum Nachdenken geführt. Die Ruinen der Städte haben diese Auseinandersetzung wach gehalten. Durch dieses Nachdenken über sich selbst sind wir Deutschen, so scheint es mir zumindest, heute ein sehr reflektiertes Volk geworden. Plumpe, platte und primitive Antworten sind uns fremd geworden, bei Pathos werden wir misstrauisch und unser Patriotismus ist ein sehr überlegter. Aber wir sind wieder Patrioten! Wir sind stolz auf unser Land. Nach den Irrungen und Wirrungen von Kommunismus im Osten und 68er-Revolte im Westen sind wir wieder Bildungsbürger und genießen Wagner, Mozart und Beethoven ebenso wie Goethe, Schiller und Brecht. Es wird wieder auf die deutsche Sprache geachtet, der Genitiv ist gerettet und „Denglisch“ und andere Sprachpfuscherei disqualifizieren. In den Schulen wird Leistung gefordert, die Kopfnoten sind zurück, die Ballettschulen haben volle Klassen mit ehrgeizigen kleinen Mädchen und die Klavierlehrerinnen Wartelisten. Uwe Tellkamp beschrieb ein Bildungsbürgertum, das anachronistisch wirkte, weil es etwas aufrecht erhielt, was doch irgendwie überholt schien. Wie überholt sind heute die damals als modern angesehenen Lebensentwürfe angesichts unserer Neuen Bürgerlichkeit.

Wenn wir ein gelungenes Beispiel für dieses reife und reflektierte Deutschland suchen, dann ist es Dresden. Zerstört, hinter dem Eisernen Vorhang verschwunden, mit mühsam aufrecht erhaltenen Traditionen, die nun von einer neuen Generation aufgegriffen und interpretiert werden und dadurch ganz neu zur Geltung kommen, obwohl es doch immer noch dieselben sind. Und die wirtschaftlich zum Erfolg führen, die zur Teilnahme an der Globalisierung mit ihren Chancen befähigen. Wir sprechen heute von der „Berliner Republik“, obwohl die Hauptstadt mit ihren Schulden, ihrer Kriminalität, ihren Integrationsdefiziten, ihrer wirtschaftlichen Impotenz und ihren miserablen Schulen wahrlich kein gutes Beispiel abgibt. Aber es ist nun einmal die Hauptstadt. Auch wenn mir „Dresdner Republik“ besser gefallen würde.


[i] http://www.srigutta.com/2007/08/dresden-saxon-treasure-trove.html