Ich bin ein Patriot. Ich finde, dass wir Deutschen allen Grund haben, auf unser Land stolz zu sein. Es ist ein freundliches, ziviles, sicheres und angenehmes Land. Nirgendwo in der Welt habe ich bislang Ablehnung deshalb erfahren, weil ich aus Deutschland stamme; im Gegenteil, oft genug verschafft es mir einen Sympathiebonus. Ich verstehe meine deutsche Prägung dabei immer als etwas Bereicherndes. Wir Deutschen haben etwas, das wir ohne falsche Scheu einbringen können, wenn in Europa und der Welt etwas bewegt werden soll.
Nun ist ein solches Bekenntnis in Deutschland nicht ganz selbstverständlich. Meine Erfahrung ist, dass mir zwar nahezu alle Menschen, die es hören, zustimmen – auch jene, die sonst so gar nicht meiner Meinung sind – aber es sich die wenigsten getrauen, das offen auszusprechen. Jaja, die „Vergangenheit“. Richtig ist, dass ein völlig aus dem Ruder gelaufener Nationalismus viel Unheil im 20. Jahrhundert angerichtet hat. Der Erste Weltkrieg ist wohl ohne nationale Idee nicht zu erklären. Der Zweite Weltkrieg war zwar mehr ein Krieg von Ideologien denn von Nationen – anders kann man sich die großen Exilantengemeinschaften nicht erklären – aber auch diese basierten letztlich auf der nationalen Idee. Folgerichtig sahen es die westeuropäischen Politiker der Nachkriegszeit als ihre Mission an, diese Idee zu überwinden und stattdessen ein einiges Europa zu begründen. Bis heute wird deshalb Patriotismus in Deutschland argwöhnisch beäugt, weil man sich vor der einer Rückkehr des alten Nationalismus fürchtet.
Wie so oft, kann man Patriotismus und Nationalismus nur unterscheiden, wenn man die Ideengeschichte kennt. Die nationale Idee ist dabei nicht sehr alt. Wie so vieles, was uns heute „konservativ“ erscheint, ist sie modernen Ursprungs. Es beginnt mit der Französischen Revolution. Die war zunächst einmal die praktische Umsetzung der Vorstellungen vom Staat als Willensentscheidung der Untertanen. Der dritte Stand der Generalstände, der 95 Prozent der Franzosen repräsentierte, erklärte sich am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung und beanspruchte damit die Souveränität. In der Denkweise der modernen Rechtsphilosophie, die den Staat immer von den Einzelnen ableitet, wurden sich die Bürger ihrer Souveränität bewusst und haben diese erstmalig selbst ausgeübt, unter Verzicht auf den bisherigen Repräsentanten dieser Souveränität, den König. Das Volk nimmt die Souveränität, die es nach der modernen Lehre ohnehin schon immer hatte, in die eigene Hand. Das ist die eigentliche Bedeutung der Französischen Revolution. Aus Untertanen werden Bürger. Die Erstürmung der Bastille, die am 14. Juli 1789 stattfand und bis heute als Gedenktag der Revolution begangen wird, ist demgegenüber nur von symbolischer Bedeutung. Nun ist sicher nichts dagegen einzuwenden, wenn die staatliche Autorität durch demokratische Entscheidung der ihr Unterworfenen ausgeübt wird. Und das ancien regime hatte auch abgewirtschaftet. Das Problem war aber der alte Souveränitätsbegriff. Denn die Souveränität, diese ominöse Allmacht, ist eben unteilbar, wie der Revolutionstheoretiker Rousseau (1712-1778) nochmals einschärfte. Alle Macht im Staate werde durch die Souveränität umfasst, und diese Macht stand allein dem Volk zu und das hatte sie ergriffen. Das ist das Erkennungsmerkmal des Souveräns: Er kann im Konfliktfall, im Ausnahmezustand, die Autorität beanspruchen. Mag er auch im Normalfall anderen Institutionen und Personen ein Mitspracherecht einräumen, er behält sich eine Letztentscheidung vor. Deshalb ist souverän, formulierte Carl Schmitt (1888-1985) absolut richtig und doch ständig missverstanden, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.
Was das konkret bedeutete, musste zuerst die Katholische Kirche erfahren. Die Republik forderte die Priester zu einem Eid auf die Verfassung und der Papst rief zur Eidverweigerung auf. Damit war der Konflikt zum revolutionären Staat geschaffen. Dieser konnte von seiner Forderung nach Souveränität, also nach Inhaberschaft aller Gewalt, nicht abrücken, weil der Souveränitätsbegriff letztlich seine geistige Grundlage, ja die Grundlage des gesamten modernen Staatsverständnisses war. Hier wird die fatale Konsequenz der Souveränität deutlich. Entweder die Kirche beugt sich der staatlichen Allmacht, was sie wegen ihrer Prinzipien nicht kann, oder der Staat muss die Kirche ausschalten, weil sie der Durchsetzung der Souveränität im Wege steht. Was folgte ist bekannt: die Mehrheit der Priester, voran der Pariser Erzbischof, knickten vor der staatlichen Macht ein, eine Minderheit blieb standhaft, was sie zumeist den Kopf kostete, was damals wörtlich gemeint war.
Der Staat gründete sich nicht mehr auf Gott, sondern auf der Souveränität des Volkes. Dieses Volk war nunmehr die höchste Autorität, die keine Machtausübung einer anderen Autorität in seinem Herrschaftsgebiet mehr anerkannte. Da diese Souveränität noch nicht unumstritten war, wurde sie rücksichtslos durchgesetzt: mit der Guillotine. Wie kann es nun sein, dass ein Gemeinwesen, das feierlich die Menschenrechte proklamiert, gegen Andersdenkende so vorgeht? Weil die Menschenrechte nur im Rahmen der Rechtsordnung gelten. Recht ist soziale Tatsache. Es mag sein, dass es philosophische Überlegungen gibt, die der Rechtssetzung vorausgehen, sie in gewisser Weise auch binden. Deshalb werden diese ethischen Prinzipien aber noch lange nicht zu Recht, was bereits Thomas Hobbes (1588-1679) zutreffend erkannte: auctoritas, non veritas facit legem. Recht ist letztlich immer nur das, was im Rahmen einer Ordnung auch durchgesetzt werden kann. Die Bindung des Gesetzgebers, wer immer das sein mag, an höhere Ideale ist eine nicht-juristische. Die Rechtsordnung ist der Staat. Dieser Staat wurde nach der Revolution nicht länger als bloße Ordnung entsprechend objektiv gedachter religiöser, moralischer und philosophischer Prinzipien verstanden, sondern als Verkörperung des politischen Willens des Volkes. Recht folgte aus einem Willensakt, der – wie es sich für Aufklärer gehört – „frei“ war von einer Bindung an irgendwelche Prinzipien. Der Wille des Volkes wurde das Gesetz. Und damit stellt sich die alles entscheidende Frage: Wer ist das Volk?
Die Besonderheit eines „Volkes“ gegenüber der Bevölkerung ist ein gemeinsames Bewusstsein, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gemeinsamkeit. Das Problem jeder Demokratie besteht darin, dass der einzelne Stimmberechtigte in der demokratischen Entscheidungssituation – einer Wahl, einer Abstimmung – eine Entscheidung für das Ganze treffen muss. In der Abstimmung äußert er seine Meinung zum gemeinsamen Wohl des gesamten Gemeinwesens. Die demokratische Entscheidung ist also nicht eine bloße Summe von individualistischen und egoistischen Einzelmeinungen, eine Art kleinster gemeinsamer Nenner. Es geht um einen gemeinsamen Willen aller, nicht in bezug auf sich selbst, sondern auf das Gemeinwesen. Zur Bevölkerung gehört jeder, der in einem bestimmten Gebiet lebt. Zum Volk gehört, wer an einem gemeinsamen politischen Willen teil hat.
Das ist nicht neu. Bereits Aristoteles (384-322 v.Chr.) und ihm folgend Thomas von Aquin (1225-1274) beschäftigen sich mit den Staatsformen. Insbesondere Thomas gelangte dabei zu dem Problem, dass die Demokratie erfordert, dass jeder einzelne Stimmbürger bei seiner Entscheidung an das große Ganze und nicht nur an seine individuellen Interessen oder an die Anliegen einer Gruppe denken darf. Weil es nun aber nahe liegt, eher an sich und seine Interessen, dann an die Interessen der eigenen Familie, der eigenen sozialen Schicht usw. zu denken als an die Interessen der Gesamtheit, setzt jede Machtausübung Tugend voraus. Diese staatsbürgerliche Tugend, die virtu, besteht in der Bereitschaft, Entscheidungen zu treffen, die sich auf das Gemeinwohl statt des Einzel- oder Gruppenwohls beziehen. In der Monarchie muss nur der eine Monarch diese Tugend besitzen, in der Aristokratie die wenigen Adligen, in der Demokratie die vielen Bürger. Da das, wie Thomas erkennt, schwerer erreicht werden kann, ist jede Demokratie immer gefährdet, an widerstreitenden Eigeninteressen und unzulänglichem Gemeinsinn zu kranken.
Auch die moderne Demokratie sah sich dieser Gefahr konfrontiert. Die Revolution hatte zwar die Volkssouveränität durchgesetzt und die demokratische Willensbildung verankert. Aber diese rechtlichen Konstrukte erforderten das Volk als soziale Grundlage. Aus der Bevölkerung von Untertanen musste ein Volk, eine Gemeinschaft von Bürgern mit einem einheitlichen politischen Bewusstsein, geformt werden. Das versuchte man zunächst über das Bekenntnis zum neuen Staat zu erreichen. Franzose zu sein war keine Frage der Abstammung, sondern der Gesinnung. Das schloss all jene, die gegen die Ideen der Revolution waren, aus. Deshalb konnten sie sich auch nicht auf die Menschenrechte berufen. „Keine Freiheit für die Feinde der Verfassung!“ lautete der Schlachtruf. Menschenrechte galten nur für diejenigen, die sich auf dem Boden der Verfassung bewegten, denn nur die zählten zum Volk, nur die hatten Anteil am gemeinschaftlichen Willensakt. Wer aber die Revolution als solche in Frage stellte – oder das, was während des Terrors von den Jakobinern dafür erklärt wurde – dem trat der revolutionäre Staat als Feind entgegen. Jeder Kritiker der Revolution stellte sich damit „hors de la loi“, und damit auch „hors de les droits de l´homme“.
Nun sind revolutionäre Ideen wie die Volkssouveränität etwas sehr Verkopftes, was zwar in den Pariser Salons Begeisterung auszulösen vermag, aber den Verstand einfacher Menschen, vielleicht sogar von Analphabeten, bei weitem übersteigt. Und bedurfte es etwas Umfassenderes, Prägenderes, um die Volkssouveränität zu begründen. Das fand man in der Ethnie. Die war bislang juristisch irrelevant gewesen. Denn die Herrschaft war durch die Dynastie legitimiert. Welche Sprache man sprach, welche Tracht man am Feiertag trug oder wie man sein Essen würzte war gleich, solange man die Gesetze achtete. Nun sollte aber die Bevölkerung innerhalb eines Gebietes eine einheitliche Identität erhalten. Die alte Gemeinsamkeit, eines Landesherren Untertan zu sein, gab es nicht mehr, weil es keinen Landesherrn und keine Untertanen mehr gab, sondern nur noch den citoyen, der selbst zum Landesherrn geworden war. Also wurde die kulturelle Homogenität plötzlich wichtig.
Es begann mit der Sprache. Wer die selbe Sprache spricht, gehört zusammen. Was aber ist noch die selbe Sprache, was ein bloßer Dialekt, wo beginnt eine neue Sprache? Die Differenz von Plattdeutsch zu Neederlands ist geringer als die zu Schwitzerdytsch. Sind Serbisch und Kroatisch nun zwei Sprachen oder eine einheitliche, Serbokroatisch? Ist Weißrussisch ein russischer Dialekt oder eine eigene Sprache? Was ist mit Tschechisch und Slowakisch? Das waren im 19. Jahrhundert keine bloß akademischen Fragen. Denn aus der Sprachgemeinschaft wurden handfeste politische Forderungen gezogen. Das kostete zunächst kleine kulturelle Minderheiten die eigene Identität. Wenn der Staat auf der kulturellen, präziser: sprachlichen Homogenität basiert, dann ist die Herstellung und Sicherung dieser Homogenität eine staatliche Aufgabe. Also kamen auf Bretonen, Korsen, Elsässer, Basken oder Katalanen schwere Zeiten zu. Frankreich war auch hier Vorreiter, und so sind bis heute nahezu alle ethnischen Minderheiten assimiliert. Noch in den 50er Jahren galt im Elsass „c´est chic a parler francais“, in den 20ern war der öffentliche Gebrauch der deutschen Muttersprache regelrecht gefährlich. Dass Perpignon eine ursprünglich katalanischsprachige Stadt namens Perpinya war, merkt man ihr nicht mehr an. Bretonisch ist zum Hobby einiger kulturbeflissener Bürger herabgesunken. Einzig die Korsen wehrten sich; ihnen kam wohl die Insellage zugute, die Assimilierungsbestrebungen erschwert.
Die auch zahlenmäßig großen Ethnien begannen hingegen, ihre eigene Kultur zu erforschen und zu veredeln. So wurde die Rechtschreibung vereinheitlicht. Die traditionellen Legenden und Märchen wurden erforscht, niedergeschrieben und verbreitet. Längst vergessene Mythen wurden popularisiert. Alles, was das vermeintlich Eigene begründen konnte – und es zugleich gegen das Andere abgrenzte – wurde nun emporgehoben. Und teilweise wurde auch ein wenig hinzuerfunden. Das war zunächst ein Bruch mit der bestehenden Geistesgeschichte. Denn bis dahin war die lokale Volkskultur auf die einfachen Funktionen, die Alltags- und Gebrauchskultur, beschränkt, während die Hochkultur, die hohe Kunst und Wissenschaft, universal und von Regionalismen losgelöst betrieben wurde. Sie stand weiterhin in der Tradition der klassischen Antike, weshalb Latein und Altgriechisch die Schlüssel zu jeder höheren Bildung waren. Das soziale Leben der oberen Schichten spielte sich europaweit auf Französisch ab. Die Volkssprachen spielten für die traditionellen Eliten keine Rolle. Das änderte sich in Deutschland nach der Überwindung der Napoleonischen Fremdherrschaft schlagartig. Plötzlich wurde die „Germanistik“ gegen die traditionelle europäische „Romanistik“ gestellt. Nicht nur in den Sprach- und Literaturwissenschaften versuchte man, eine eigenständige deutsche Hochkultur zu behaupten, um sich abzugrenzen und die Voraussetzungen für einen auf ethnischer Homogenität basierenden Nationalstaat zu schaffen. Auch andere Geisteswissenschaften erlebten solche Versuche, etwa die Rechtswissenschaft, in der die Forderung aufkam, anstatt auf die römische Rechtstradition zu setzen, deutschrechtliche Ansätze zu entwickeln. Das scheiterte zwar weitgehend an der historischen Rechtsschule des Carl Friedrich von Savigny (1769-1861), aber in den anderen Disziplinen wurde in wenigen Jahrzenten der jahrhundertealte Schatz einer europäischen Geisteseinigkeit verspielt.
Diese Entwicklung lässt sich in fast schon karikaturenhafter Deutlichkeit am Beispiel der heutigen Tschechischen Republik studieren. Böhmen ist eine uralte mitteleuropäische Kulturregion. In Prag wurde 1348 die erste Universität nördlich der Alpen gegründet. Unterrichtssprache war natürlich Latein. Mehrere Kaiser der Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation regierten von Prag aus. Ursprünglich slawisches Siedlungsgebiet, ließen sich schon seit der ersten Jahrtausendwende viele deutschsprachige Siedler in Böhmen wie im angrenzenden Mähren nieder. Anders als in Sachsen und Brandenburg verließen die slawischen Bewohner ihr Gebiet jedoch nicht, sondern blieben sesshaft. In den Städten, aber auch in weiten ländlichen Gebieten setzte sich schnell Deutsch als Umgangssprache durch, in Zentralböhmen und Teilen Mährens hielt sich die slawische Sprache. Der Adel war ebenfalls gemischt. In den Reformationswirren stellte sich der böhmisch-mährische Adel, sowohl der deutsch- wie der slawischsprachige, auf die Seite der Reformatoren. Das hatte weniger religiöse Gründe als vielmehr das Kalkül, sich auf Kosten des katholischen Königs Rechte zu sichern. Das Kalkül ging indes nicht auf. Die Habsburger behaupteten sich. Und der Adel verlor alles. Stattdessen wurden neue Adelsfamilien eingesetzt, die sämtlich deutschsprachig waren. Die berühmteste ist die Familie derer von Liechtenstein. Nachdem sich die drei Brüder Karl, Maximilian und Gundakar von Liechtenstein ab 1599 nach einigen Schwankungen endgültig wieder zu Papst und Katholischer Kirche bekannt hatten – was zu diesem Zeitpunkt keineswegs erfolgversprechend war – engagierten sie sich auf der Seite des böhmischen Königs stark in den Auseinandersetzungen mit dem lokalen Adel. Das brachte dem Haus Liechtenstein nach dem Sieg der Habsburger umfangreiche Ländereien ein. Sie entwickelten diese vorbildlich. Noch heute prägen die Baudenkmäler der damaligen Zeit die Region. Was dieser Führungsgeist vermag, sieht man am heutigen Fürstentum Liechtenstein, einer Ansammlung einiger alpiner Dörfer, die mittlerweile das wohlhabendste Land Europas ist. Um auch das geistige Niveau zu heben, holten die neuen Herren die Jesuiten ins Land, den damals intellektuellsten katholischen Orden. Diese gründeten Schulen und Universitäten, und schufen so erst die Voraussetzungen für die Existenz eines gebildeten, stolzen und wohlhabenden Bürgertums. Ihre Barockkirchen sind nach wie vor die Wahrzeichen der Städte. Entgegen allen Anfeindungen kann man an der Geschichte Böhmens und Mährens die positive Wirkung der Tätigkeit der Jesuiten nachweisen.
Wenn auch die Aufklärung von diesen Voraussetzungen lebte, sie mochte sie nicht. Nachdem nun Böhmen und Mähren vom deutschsprachigen österreichischen Kaiser, der zugleich böhmischer König war, regiert wurde, der lokale Adel seit dem 30jährigen Krieg ebenfalls deutschsprachig war und auch die Bischöfe deutschsprachigen Adelsfamilien entstammten, war die slawische Sprache die geeignete Ausdrucksform des Widerspruchs. Auf solche feinsinnigen Ideen kommen nun aber vornehmlich städtische Bildungsbürger. In den Städten wurde aber, zumal unter den Gebildeten, fast ausschließlich Deutsch gesprochen. Aber diese seit je her Deutsch sprechenden Bildungsbürger begannen nun auf einmal, sich der slawischen Lokalsprache zuzuwenden. So erforschte und systematisierte der Linguistikprofessor Josef Jungmann die lokale Sprache und wurde so zum eigentlichen Begründer des Tschechischen, dem er durch umfangreiche Neuschöpfungen den Wortschatz überhaupt erst auf praktikables Niveau erweiterte und eine Grammatik schuf. Sein Denkmal befindet sich am namesti Jungmannovo in Prag, der durch die Flexion des Namens durch Anhängen des Suffix –ovo zumindest den Vorteil eines tschechischen Klangs hat. Die so konstruierte Sprache wurde dann in den Städten Böhmens und Mährens von enthusiastischen Bürgerfamilien gelernt, die vom gewohnten Deutsch auf die erlernte Fremdsprache umstellten. Diese Neukonstruktion einer Kultur aus historischen Versatzstücken und freier Hinzufügung ist übrigens ihrerseits eine beachtliche schöpferische und kulturelle Leistung – sofern man sie als solche anerkennen würde und nicht stur behauptete, die Legende sei die historische Wahrheit. Leider war das im 19. Jahrhundert der Regelfall und ist es teilweise bis heute.
Mit dem Bekenntnis zur tschechischen Sprache einher ging auch eine Ablehnung der bestehenden Ordnung. Und das war die übernationale europäische Donaumonarchie. Nun war die aber deutschsprachig, und die Deutschen, selbst im nationalen Rausch, erforschten gerade ihre eigene kulturelle Basis. Also suchten auch die nun so genannten Tschechen nach eigenen Märchen, Mythen, Sagen und Helden. Soweit es davon nichts gab, wurde es einfach erfunden. So wurden etwa zwei Handschriften präsentiert, um einen Beweis für die Existenz einer tschechischsprachigen Literatur bereits zu Zeiten des Nibelungenliedes zu gewinnen. Sie waren natürlich gefälscht. Sofern technische Erfindungen aufkamen, zumal, wenn sie von Deutschen gemacht wurden, wurde teilweise ein tschechischer Universalerfinder als Urheber benannt. Aus dem mittelalterlichen Sektierer Jan Hus (1369-1415), auf der Basis dessen Lehre später marodierende Horden brandschatzend durch Europa zogen, wurde ein Nationalheiliger gemacht, der angeblich bereits im 14. Jahrhundert gegen die kulturelle Dominanz der Deutschen gekämpft habe. Zudem diente er als Argument gegen die katholische Kirche, was dazu führte, dass Tschechien unter dem Kommunismus eine massive Kirchenverfolgung erlebte und bis heute nahezu vollständig entchristlicht ist.
Bei alldem machte sich die tschechische Nationalbewegung nicht die Mühe, zwischen Deutschböhmen und slawischen Böhmen zu unterscheiden. Es gibt für Böhmen kein eigenständiges tschechisches Wort. Für Tschechen sind es Synonyme. Bereits damit wird der Anspruch auf das gesamte Böhmen angemeldet. Böhmen ist das Land der Tschechen; wer kein Tscheche ist, hat kein Heimatrecht in Böhmen. Der Anspruch auf politische Gestaltung folgt nicht mehr aus einer staatspolitischen Idee, sondern aus einem – in diesem Fall: konstruierten – kulturellen Anspruch. Die Nation ist nicht länger Ausdruck einer politischen Übereinstimmung, sondern wird als historische Gegebenheit verstanden.
Nun muss zur Ehrenrettung der Tschechen gesagt werden, dass sie damit keineswegs allein standen. In gewisser Weise holten sie nur nach, was die Deutschen mit einigen Jahren Vorsprung selbst taten. Freilich übertrieben sie noch mehr. Aber das mag auch ein Abwehrreflex gewesen sein, mussten sie doch fürchten, als kleine regionale Minderheit auf den Status der Bretonen in Frankreich gedrückt zu werden. Die Deutschböhmen ihrerseits lieferten gute Gründe für eine solche Befürchtung. So torpedierten sie etwa erfolgreich ein Nationalitätenstatut, das die tschechische Sprache im öffentlichen Leben gleichberechtigt hätte. Beide Seiten nahmen sich im nationalen Rausch wenig, und in der Mitte standen die Juden, deutschsprachig, gebildet, gesetzestreu, die keiner haben wollte und die deshalb am österreichischen Kaiser hingen, der ihnen die Bürgerrechte gewährt hatte. Als er Geschichte geworden war, verloren sie ihre Welt, erst geistig, worüber Franz Kafka (1883-1924) und Joseph Roth (1894-1939) so wunderbar schreiben, dann physisch, durch den Holocaust der Nazis. Angesichts dieser Horrorgeschichte erscheint der tschechische Nationalismus harmlos. Thomas Masaryk (1850-1937), der erste Präsident der Tschechoslowakei, der sicher ein Nationalist war, achtete die Rechte der Deutschböhmen und begründete eine Demokratie, die allen totalitären Versuchungen der Zwischenkriegszeit standhielt und erst im Münchner Abkommen endete. Er kritisierte nationalistische Exzesse, wie die Berufung auf gefälschte Handschriften, und war in der klassischen europäischen Geisteswelt fest verwurzelt.
Nur: Den Geistern, die er rief, ermangelte es an allen diesen Qualitäten. Der Vulgärnationalismus griff das Grundmuster dieser Nationalidee auf; die Ablehnung des deutschen Einflusses in Böhmen und Mähren. Und als nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges alle Regeln und Konventionen im Koma lagen, als kein Gefühl für Sittlichkeit und Anstand den eigenen bösen Trieben mehr Einhalt gebot, da brach sich diese Idee Bahn. Vergewaltigungen, Plünderungen, Niedertracht aller Art muss man nicht befehlen – man muss nur die Verbote aufheben. Das geschah in Tschechien 1945 gegenüber den Deutschböhmen. Sie wurden auf brutale und niederträchtige Weise misshandelt, entrechtet, beraubt und schließlich aus Böhmen und Mähren vertrieben. Bis heute tut sich die Tschechische Republik schwer, dieses Unrecht als solches anzuerkennen. Sie müsste damit auch ihre eigene ethnisch-nationale Staatsbegründung neu bewerten. Auch wenn heute Staaten nicht mehr auf der ethnischen Homogenität der Bürger basieren, sind die heutigen Staaten doch im 19. und 20. Jahrhundert auf dieser Basis entstanden. Anzuerkennen, dass dabei vieles zerstört wurde, was uns heute wieder wertvoll erscheint, fällt jenen, die noch immer von den Ergebnissen dieser Zerstörungen leben, naturgemäß schwer. Aber auch das wird überwunden. Es gibt in Mitteleuropa heute kaum einen Platz, der so offen, tolerant und fröhlich ist wie Prag. Und auch an der Karlsuniversität, noch vor hundert Jahren Schauplatz bitterer Kämpfe um die kulturelle Dominanz, werden längst wieder deutschsprachige Kurse angeboten. Diese Realität verdrängt die Ideen der Vergangenheit. Und das ist gut so.
Denn der Nationalismus ist ein Irrweg. Er ist der Versuch, die Frage, wie aus einer Bevölkerung ein politisch geeintes „Volk“ werden kann, durch die Konstruktion einer gemeinsamen historischen Schicksalsgemeinschaft zu beantworten. Der SPIEGEL titelte über diesen Versuch und seine Epoche nicht ganz falsch: „Die Erfindung der Deutschen“. Die Lösung für die zukünftige Organisation Europas ist nicht die ethnische Homogenität, sondern die kulturelle Vielfalt innerhalb einer westlichen, christlich-jüdischen Leitkultur. Staatliche und rechtliche Strukturen begründen sich aus dem Erfordernis der effizienten Regierung. Dabei kommt es nicht auf die Ethnie der Regierten, sondern auf die Frage an, durch welche Autorität die bestmögliche – demokratische, transparente, rechtsstaatliche – Regierung gewährleistet werden kann. Die verschiedenen Autoritäten stehen selbständig und selbstbewusst nebeneinander; lokale, regionale, nationale, europäische. Der Nationalismus dient der Abgrenzung vom anderen. Die nationale Identität soll die Eigenart begründen, die eine eigene Staatlichkeit rechtfertigt. Der Patriotismus nutzt die eigenen kulturellen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Prägungen hingegen, um das gemeinsame große Ganze zu bereichern, in dem er die verschiedenen Identitäten als Facetten des Einen betrachtet und als Bereicherung des eigenen Ansatzes schätzt.
Gerade am Beispiel der Donaumonarchie und ihrer Folgestaaten kann man Unsinn und Überwindung des nationalen Irrwegs studieren. So fuhr bis 1919 von Wien nach Bratislava eine Überlandstraßenbahn. Man bezahlte in beiden Städten mit der österreichischen Krone. Ab 1919 gab es Grenzkontrollen, in Bratislava galt die tschechoslowakische Krone, in Wien der Schilling. Bald musste man an der neuen Grenze den Straßenbahnzug wechseln. Deutschsprachige Preßburger – wie Bratislava bis 1919 hieß – zogen nach Wien, slowakischsprachige Wiener nach Bratislava. Es wurden Zölle erhoben. Ab 1945 war die Grenze ganz gesperrt. Es galt ein Schießbefehl gegen Grenzverletzer. Heute ist die Grenze wieder offen. Die Strecke der alten Überlandstraßenbahn ist zwar kurz vor Bratislava überbaut, aber die Wiener S-Bahn fährt auf der alten Trasse bis ins letzte Dorf vor Bratislava, nach Wolfsthal. Dort wartet bereits der Stadtbus von Bratislava auf die Fahrgäste. Wer in Bratislava ins Taxi steigt und als Fahrtziel den Flughafen angibt, wird gefragt, ob er zum Wiener oder zum Bratislavaer Airport will. Zweimal stündlich pendeln Vorortzüge zwischen beiden Städten. Eine Autobahn wurde jüngst eröffnet. Extravagant ist es, mit Schnellbooten auf der Donau in die jeweils andere Stadt zu reisen. Hier wie da wird mit Euro bezahlt. Zölle gehören längst der Vergangenheit an. In den grenznahen Dörfern Niederösterreichs kaufen slowakische Familien Häuser, weil die Immobilien billiger als in Bratislava sind. Umgekehrt siedeln nicht wenige Österreicher in der chicen Altstadt Bratislavas. Die Läden bieten nahezu das selbe Sortiment an. In Kleidung, Habitus und Lebenswünschen dürften sich die jungen Leute in beiden Städten kaum mehr unterscheiden. Mit Englisch besteht ein lingua franca. Sie mögen verschiedene Muttersprachen haben, verschiedene kulturelle und gesellschaftliche Prägungen aufweisen, aber das verstehen sie nicht als Gegensatz, sondern eher als Ergänzung. Die einzigen verbleibenden Unterschiede folgen aus dem unterschiedlichen ökonomischen Niveau, das sich aber immer mehr angleicht. Bei so viel Gemeinsamkeit: Wieso soll ausgerechnet der Staat, die öffentliche Gewalt, auf dem Gedanken der Abgrenzung, der Verschiedenheit aufbauen? Der nationalen Idee des 19. Jahrhunderts fehlt die Basis in der Realität. Deshalb ist sie tot. Und es ist nicht schade darum.