Am 3. Oktober 2011 lud meine Schwester Constanze Schönberg Freunde in ihr Berliner Haus ein, um Deutschland zu feiern. Ich finde ihre Rede fantastisch! 

Liebe Gäste, liebe Freunde,

Schweizer treffen sich am 1. August, Amerikaner am 4. Juli, sie treffen sich bei Freunden und feiern – ja was eigentlich? Ihr Vaterland? Starkes Wort. Wir Deutschen haben ja so unsere Probleme mit Pathos. Bleiben wir prosaisch: Sie feiern, dass sie zusammen ein Gemeinwesen bilden, auf das sie stolz sind. Und genau dazu habe ich Sie heute eingeladen.

Wir nehmen uns heute einmal die Freiheit, Deutschland gut zu finden. Wir fokussieren uns also nicht auf den Teil der Geschichte, den wir „Vergangenheit“ nennen, wir fangen nicht an mit „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ und wenn wir Brecht zitieren, dann nicht „Der Schoss ist fruchtbar noch“. Bin ich jetzt schon politisch inkorrekt?

Für Menschen, die ihr Geld mit Betroffenheit verdienen, sicher. Aber die sind ja heute nicht eingeladen. Und das ist auch gut so. Jeder, den ich hier sehe, lebt nach dem Leistungs- statt nach dem Lustprinzip. Wir arbeiten hart, wir schaffen den Wohlstand, von dem nicht nur wir leben, sondern auch das Gemeinwesen, das wir heute feiern. Wir wollen also nicht nur stolz sein auf unser Gemeinwesen, sondern auch auf uns. Beides gehört zusammen.

Was macht es denn aus, unser Gemeinwesen? Sicher könnten wir jetzt eine sehr männliche Diskusion ueber Automarken beginnen, aber lassen Sie uns auf einen Punkt stossen, der mir bei der Vorbereitung eingefallen ist: das Theater. Ich stehe hier auch auf einer Bühne. Ich spreche. Lauter als sonst. Artikulierter als sonst. Sie sind mein Publikum. Fantastisch.

„Das Theater als eine moralische Anstalt betrachtet“ überschrieb Schiller einen sterbenslangweiligen Text, und Lessing wollte gar durch ein Nationaltheater die deutsche Einheit herbeiführen. Lessing zitiere ich übrigens nur, weil meine Familienwurzeln in seiner Geburtsstadt liegen, Kamenz in Sachsen. Ansonsten passt er mir mit seiner agressiven Toleranz nicht, zum einen, weil der Islam nicht zu meinem Deutschland gehört, und zum anderen, weil ich doch zu katholisch bin, um ihm folgendes nachzusehen: „Der Brand. Ein Hurenhaus geriet in Brand. Zum Retten und zum Löschen / Sechs Mönche kam’n aus ihren Betten. Wie waren die so schnell zur Hand? Ein Hurenhaus geriet in Brand.“

Es gibt nirgends auf der Welt so viele Theater wie in Deutschland. Und sie sind, allen Regietheaterversuchungen zum Trotz, nicht mal schlecht. Das deutsche Bürgertum hat sich eben nie nur über Geld, Erfolg und Autos definiert, sondern immer über einen wunderbaren Begriff: Bildung. Bildung kann man nicht übersetzen. Bitte. Wer „education“ sagt, ist uneducated. Bildung ist ein soziales Konzept. Anderswo in der westlichen Welt war der Bürger der unabhängige Unternehmer. Er war Bourgeois. Wer jemals marxistische Theorie lernen musste, kennt den Begriff. Bourgeois – das Gegenteil von Proletarier. Wer will schon Prolet sein? In Deutschland wurde man Bürger nicht durch Geld, sondern durch eine Sozialisationsmaschine: Die Universität. Und die erste, richtige, moderne Uni ist meine alma mater, die Humboldt-Universität. Naja, das ist vielleicht etwas einseitig, Jena war eher. Aber beide liegen im Osten.

Damit muss ich nun doch einmal unsere Gäste aus dem Teil Deutschlands ansprechen, der bis 1989 von mir durch eine Mauer getrennt war. Abitur ohne Goethes Faust gemacht? Mathe abgewählt? Ich kann weiter lästern. Deutschland ist Theater, weil die deutsche Gesellschaftsidee Bildung ist. „Der innere Mensch formt den äusseren Menschen“ heisst das bei Schiller. Da geht es um Haltung. Es geht um einen unveräusserbaren Kern an Überzeugungen, Erkenntnissen und Erfahrungen, der uns zu dem macht, was wir sind. Hoffentlich. Hoffentlich sind wir Menschen, die aus sich heraus stark, unabhängig und überzeugend sind, und keine Blätter im Wind kurzlebiger Moden. Deshalb nennen wir uns auch Akademiker, was einen ethischen Anspruch in sich trägt und obendrein deutlich schmeichelhafter klingt als der amerikanische „education snob“.

Damit Bildung funktioniert, braucht es freilich einen Grundstock an Wissen. Also für alle, die entweder Abi im Westen gemacht oder im Deutschunterricht immer an Sexualkunde gedacht haben: Wie wäre es mal mit einer Auffrischung? Und dass die Sexualkundelehrerin Spannenderes erzählt hätte als im Faust II die Mutter ihrer Tochter in der Szene „Kaiserliche Pfalz“ kann ich mir kaum vorstellen: „Heute sind die Narren los, Liebchen, öffne deinen Schoß, Bleibt wohl einer hangen.“

Und weil ich gerade so begeistert dabei, hier auf meiner Bühne Theater zu spielen, bleiben wir noch etwas beim Dichterfürsten: Er war übrigens ein Arschloch. Er sagte seinen Gastgebern, wenn ihm das Essen nicht schmeckte. Dafür fliegt man bei mir von der Party. Gern verführte er auch die Ehefrauen. Wie aufregend. Und schrieb dann wunderbare Gedichte, wie etwa „Gingko Biloba“:  „Dieses Baumes Blatt, der von Osten / Meinem Garten anvertraut, Giebt geheimen Sinn zu kosten, Wie’s den Wissenden erbaut“. Man verzeiht ihm also.

Mit dem Faust gelingt ihm die ultimative Lebensgeschichte der Geheimräte, Chefärzte, Zahnärzte und sonstigen Akademiker. Unterbezahlter Professor in bröckelndem Universitätsgebaeude erkennt, dass nichts auf der Welt wert ist, die eigene Neugier, das eigene Streben nach Erkenntnis, Erfahrung und Entwicklung aufzugeben. Und verspricht dem Teufel seine Seele, wenn er ihm so etwas bieten könne: „Werd ich zum Augenblicke sagen, Verweile doch, Du bist so schön!, dann magst Du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn. Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frei, Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, Es sei die Zeit für mich vorbei!“. Wow. Und der Teufel müht sich redlich: Aber weder ein zünftiges Flatrate-Saufen in Auerbach’s Keller, noch Tickets zur Magieshow von David Copperfield helfen. Brenzlig wird es, als er dem Professor nach einer klamottenmässigen Runderneuerung und gefühlten Verjüngung um mindestens 20 Jahre das Angebot schnellen Sex macht. Die Gretchentragödie. Tragödie nur für Gretchen. Mann nimmt es mit, geniesst, aber was ist es ohne geistige Herausforderung? Die findet er erst im II. Akt, bei Helena, dem Schönheitsideal der Antike. Es passiert noch viel mehr, aber lassen Sie mich zum happy end kommen: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“.

Liebe Freunde, mein Theaterstück geht um Deutschland. Deutschland – das ist wohl doch mehr als nur ein Gemeinwesen aus uns. Es ist ganz viel Geist, der darauf wartet, von uns entdeckt, angeeignet und weitergetragen zu werden. Wir nehmen es auf, Schiller, Goethe, ein bisschen Lessing, und dadurch verändern wir es, und es verändert uns, und alles ist spannend, und das ist Deutschland. So wie hoffentlich heute abend. Ich freue mich auf spannende, anregende, aufregende Gespräche. Wir lernen ja voneinander und durcheinander. Es ist wie bei kleinen Inseln und Wellen. Wir sind die Inseln, Kommunikation die Wellen, sie geben uns neues, sie nehmen, sie formen uns immer wieder aufs neue. Wir entwickeln uns. Und dadurch entwickelt sich unser Gemeinwesen. Zu denen, denen das zu abgefahren ist, spricht jetzt nochmal Professor Faust: „Wenn Ihr’s nicht fühlt, Ihr werdet‘ s nie erjagen“. Für die anderen kommt Brecht: „Anmut sparet nicht, noch Mühe, Leidenschaft nicht, noch Verstand, dass ein gutes Deutschland blühe“ – Danke für Ihre Aufmerksamkeit!